von Dr. Christoph Kivelitz, Kunsthistoriker
Die Zeit scheint stillzustehen in den Fotografien von Andreas Ren. Städtische Orte auf der einen, Landschaftsräume auf der anderen Seite sind das Thema seiner fotografischen Arbeit. Fast immer sind die durch ihn erfassten Situationen menschenleer. In den wenigen Fällen, in denen ein Mensch aufgenommen ist, tritt dieser nicht als Akteur, handelnd und sein Umfeld bestimmend in Erscheinung, vielmehr als ein der Bildordnung eingefügtes, farbliches und formales Strukturelement. Die durch
Andreas Ren fokussierten städtischen Orte sind solche, die zwar eine bestimmte Funktion erfüllen, Wartezonen, Rolltreppen, Parkhäuser, Brücken, Unterführungen, ein Waschsalon, in der alltäglichen Nutzung werden sie jedoch kaum als solche wahrgenommen, geschweige denn mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Andreas Ren legt in seinen Aufnahmen Wert darauf, dass die jeweiligen Orte sich gedanklich mit ihrem ursprünglichen Funktionszusammenhang verknüpfen lassen, um eben diese Funktionalität gleichzeitig auszuhebeln. Farbliche und formale Akzente sind dabei so aufeinander bezogen, dass jede weitere Veränderung als ein Eingriff von Außen grundsätzlich ausgeschlossen zu sein scheint. Es fügt sich eine bildimmanente Ordnung, die zwar die Alltagswirklichkeit in sich aufhebt, diese aber der Dynamik von Zeit und Raum und den üblichen Verhaltensmustern und Handlungsweisen entrückt.
Bei den Bildern des Zyklus „reibungslos …“ handelt es sich ausschließlich um Innenräume, die allerdings jeder Empfindung von Privatheit und individueller Prägung entgegenstehen. Indem sie eine aseptische Reinheit und Vollendetheit zur Schau stellen, sind alle Spuren menschlichen Handelns wie weggeblasen. Alle über die Bildgrenzen hinausweisenden Richtungsverläufe, Treppen, Rampen oder Schilder, werden durch die kompositorischen Bezüge wieder in die Bildordnung zurückgeführt, dadurch gleichsam in ihrem Bewegungsduktus zurückgenommen und retardiert. So gestaltet sich der Aufstieg aus dem Tunnel per Rolltreppe zum Perpetuum mobile, das nicht den Weg aus dem U-Bahn-Schacht weist, vielmehr den harmonischen Zusammenklang vertikaler, diagonaler und geschwungener Formverläufe anschaulich gegenwärtig werden lässt („Rolltreppe“, 2001).
So gelingt es Andreas Ren, funktional bestimmte Orte der Anonymität und Gesichtslosigkeit zu entziehen und ihnen völlig neue Eigenschaften zuzuweisen. Er wählt ein Motiv aus, das dann nach seiner Vorstellung einem Transformationsprozess unterzogen wird. Die so vorgefundene Situation versteht sich als Material, das aufbereitet und in einem Akt der Neuschöpfung einer anderen Realitätsebene zugeordnet wird. Andreas Ren zeigt auf, dass der städtische Raum weitestgehend durch Nutzungsstrukturen, Verweise und Gebote besetzt und damit selbstbestimmtem Handeln und individuellen Neigungen verschlossen ist. In den Bildern des Zyklus „reibungslos …“ spitzt der Fotograf die abweisende Kühle und hermetische Struktur des öffentlichen Lebens zu, um sie dann aber allen Verwertungsansprüchen und Kontrollinstanzen subversiv zu entziehen. So versteht sich die fotografische Aufnahme in dieser Weise als Intervention im öffentlichen Raum. Das nach praktischen Bedürfnissen geregelte und Notwendigkeiten unterworfene Konzept von Öffentlichkeit wird im Prozess der Bearbeitung und Veränderung durch ein Bild überlagert, das rational nicht mehr zu erfassen ist und sich schließlich allein einer persönlichen Wunsch- und Sehnsuchtsökonomie verdankt.
Im Zyklus „urban spaces“ führt Andreas Ren dieses Konzept bis zu einer radikalen Verfremdung der realen Situation weiter. In der digital bearbeiteten Aufnahme der „Unterführung“ (2001) wird
etwa die Stützwand einer Brückenpassage seitlich aufgeklappt, so dass der Straßenverlauf durch eine absurd anmutende Verriegelung seine Funktion als Verbindungsstrecke und Durchgangsraum verliert. Ein als Durchfahrt täglich gequerter Ort wird durch eine symmetrische Gliederung dem alltäglichen Bewegungskontinuum entrissen und als sich selbst genügender Ort zum Stillstand gebracht. Der Betrachter sieht sich veranlasst, sich von der ursprünglichen, aufgrund der Fahrbahnmarkierung noch deutlich zu erkennenden Bedeutung dieses Ortes freizumachen. In einem Wechsel der Perspektive lässt er sich auf die meditative, kapellenhaft anmutende Stille dieser sich hermetisch nach außen abgrenzenden Situation ein.
In zwei weiteren Bildern dieser Werkgruppe – „Mensa I und II“ – wird die farblich gefasste Rasterstruktur der Großraummensa der Ruhr-Universität Bochum durch axiale Spiegelung und kaleidoskopartige Brechungen akzentuiert. Die geometrisch konstruierte Gliederung der Architektur gewinnt eine Autonomie, die den Nutzwert des Raumes in den Hintergrund drängt. Der Ort erlangt die Qualität eines sich kristallin entfaltenden Naturgebildes.
In den Werkgruppen „reibungslos…“ und „urban spaces“ wird dem Betrachter durch ein perspektivisches Gerüst und einen hieraus sich ergebenden Fluchtpunkt ein fester Standpunkt gegeben. Eine solche Orientierung wird ihm in den Landschaftsszenarien des Zyklus „landscapes“ verweigert. Hierfür bevorzugt Andreas Ren neben quadratischen Formaten weit gestreckte Breitbildaufnahmen. Die Landschaft baut sich aus horizontal gestaffelten Bildstreifen auf, die allerdings kaum der sukzessiven Entwicklung eines Tiefenraumes dienen. Die einzelnen Schichten werden über formale Relationen immer wieder in die Flächenkomposition des Bildes eingebunden. An den Rändern jeweils angeschnitten ist zwar der übergreifende Landschaftskontext vor Augen geführt, Andreas Ren formuliert jedoch zugleich eine bildimmanente Ordnung, die jede außerbildliche Referenz in sich aufhebt. Die Bildbetrachtung bewegt sich so zwischen dem Bedürfnis, den Ort mit eigenen Erfahrungen zu verknüpfen, und der Erkenntnis, dass der Künstler einen autonomen, zeitlich und räumlich hiervon frei gesetzten Raum erschaffen hat.
Das der Serie „landscapes“ angehörende Panoramabild des „Aletschgletschers“ (2005) entfaltet sich aus einer gleichsam „ortlosen“ Metaperspektive heraus. Der arkadischen Ideallandschaft durchaus vergleichbar, sind in der Weite des Raumes miniatureske Wegeführungen, Furchen oder Bachläufe zu erkennen. Ohne an Schärfe zu verlieren, behauptet sich jedes Detail in seiner Besonderheit als Bestandteil eines übergreifenden Systems, das die Vorstellung eines allumfassenden Zusammenhangs berührt. Nicht die Verlorenheit des Wanderers, einsam vor die romantisch empfundene Landschaft gestellt, ist Thema der Bildinszenierung. Eher schon ist es der Verweis auf eine die Details und eine gedachte Ganzheit verknüpfende Größe, deren Ausformulierung der Fotograf sich dann aber verweigert.
So geht es nicht darum, im Rückgriff auf ein vormodernes Weltbild ein christlich-religiös bestimmtes Harmonieprogramm ins Werk zu setzen. Vielmehr lässt Andreas Ren den eigenen künstlerischen Zugriff gerade durch die akzentuierte Künstlichkeit des Bildes anschaulich werden, um damit zu vergegenwärtigen, dass Natur und Landschaft als ein durch menschliches Handeln und Wirken bestimmtes Konstrukt zu betrachten sind. Künstler und Betrachter sehen sich veranlasst, für sich die Bedeutsamkeit und die symbolische Kraft der Landschaftstopographie zu ergründen.
Andreas Ren nimmt in seiner fotografischen Arbeit ikonographisch vorgeprägte Bildmuster auf, die sich nur noch experimentell und vorläufig auf die entsprechenden Interpretationen zurück beziehen lassen. Das Landschaftspanorama führt zwar die Typologie der Ideallandschaft vor Augen, um damit auch die symbolische Verbundenheit von Mikro- und Makrokosmos, des Einzelnen und des Ganzen, zu tangieren. Doch unabhängig von diesen Deutungsmustern offenbart der Fotograf ganz banal zu verstehende Alltagssituationen und Räume, denen eine zutiefst ästhetische, ganz sich selbst genügende Anschauungsqualität innewohnt. In diesem Sinne stellt er Oberflächenwirkungen, Licht-, Form- und Farbbezüge, ambivalente Beziehungen von Fläche und Raum heraus. Die Anschauung oszilliert permanent zwischen dem Bedürfnis, sich erinnernd zu verorten, und der Erfahrung, alle zweckrationalen Vorstellungen fallen zu lassen, um die Motive vollständig neu und unvoreingenommen wahrzunehmen.
In dieser Umgestaltung der Alltagswelt nimmt
Andreas Ren für sich selbst wie auch für den Betrachter ein Stück Freiheit und Ungebundenheit in Anspruch. Über das Sehen erschließt er so eine neue Zugangsweise zur Wirklichkeit.