von Thea Struchtemeier

Unter der Haut

Ein Schellen unterbricht die konzentrierte Spannung im hellen Zimmer zwischen Wolken und Tal auf der sechsten Etage des MA-Gebäudes. „Jawohl, Sie erhalten von uns einige Fragebögen sowie ein Merkblatt dazu. Bitte lesen Sie es aufmerksam durch, füllen die Bögen und Erklärung komplett aus und schicken alles an uns wieder zurück. Anschrift: Institut für Anatomie, Prosektur, Medizinische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.“

Prof. Dr. Rolf Dermietzel legt den Hörer bedächtig auf. „So beginnt die Anfrage an uns, oft von Personen mittleren Alters. Mit ihrer Unterschrift spenden sie für viele Jahre darauf ihre Leiche der medizinischen Forschung. Rückzieher sind natürlich möglich. Das durchschnittliche Alter der Körperspender beträgt derzeit 80 Jahre.“

Keine Plastinierung

Einige Etagen tiefer im Keller ein menschenleerer Raum, darin 16 chromblinkene Edelstahlbehälter so hoch wie kräftige Turbinen. Der Anatom Dr. Heinz Jürgen Jacob geht hier täglich ein und aus. Auch ihn unterbricht gerade ein Piepser in seiner Arbeit. Der Bestatter meldet die Überführung einer Leiche ins Anatomische Institut. Sie hat den roten Körperspendeausweis bei sich. Der Tote starb an Altersschwäche – kein Unfall oder Freitod, auch keine ansteckende Krankheit, sonst würde seine Spende abgelehnt. Bis zur Sektion wird er hier in einer der silbernen Kammern neben fünf anderen Körperspendern bei Raumtemperatur aufbewahrt. „Das kann bis zu drei Jahren dauern“, so der Akademische Oberrat. 

Erst nach einer ungefähr einjährigen konservierenden Formalingemisch-Einspritzung über das aterielle System – unblutig, aber keine Plastinierung wie in der Ausstellung „Körperwelten“ – wird der tote Körper den Erst- und Drittsemestern jeweils nur zum Wintersemester im Kurs makroskopische Anatomie vorgelegt. „Mit dieser Perfusionsfixierung muss am zweiten Tag nach Eintritt des Todes begonnen werden“, so Jacob. Deshalb lässt das Institut Leichen nur im Umkreis von 100 Kilometern abholen. Nach entsprechender Vorbereitung schiebt sie der Präparator Helmut Riese in den Präpariersaal. Unter schweren hellgrauen Plastikplanen warten sie auf die jungen Medizinstudierenden. Von diesen schrittweise und vorsichtig mit Pinzette und Skalpell aufgeschnitten – das Fett und Bindegewebe säuberlich heraus geschält, um die darunter liegenden Muskeln eingehend betrachten zu können, und immer die untersuchten Körperteile nah am Toten gesammelt – werden sie am Ende im Rahmen einer gemeinsamen Trauerfeier bestattet. Ihr letztes Ziel: Feld 115 des anatomischen Gräberfeldes auf dem Hauptfriedhof am Freigrafendamm. 

Sinnstiftung

Sich der medizinischen Forschung zu spenden ist keineswegs unüblich, die Motive vielfältig, auch Dauerspenden kommen vor, selbstverständlich ohne finanzielle Gegenleistung, sonst wäre es schließlich keine Spende. „Sich der Wissenschaft zu verkaufen, ist ein Ammenmärchen“, so Professor Dermietzel, und weiter: „Bei einigen Spender/innen entsteht der Wunsch aus einer schweren Krankheit heraus. Mit ihrer Körperspende wollen sie dem Leiden einen letzten Sinn vermitteln, die Krankheit erforschen helfen.“ So drückt es auch die Steleninschrift des Bildhauers Erwin Schaab auf dem anatomischen Gräberfeld der Essener Universität auf dem Friedhof Überruhr aus, die mit zwei sich begegnenden Händen vom „Verein der Förderer der Universität“ 1977 gestiftet wurde. Ihr Text: „In ihrem Tode schenkten sie den Lebenden Hoffnung in ihren Leiden“. Andere Gründe sind prosaischer: „Man will den Angehörigen nicht mit der Grabpflege zur Last fallen“, erklärt Jacob.

Mit dem Grabfeld 115, eingerichtet für 351 Erd- und 657 Urnenbestattungen, besitzt die Ruhr-Uni Bochum ein noch größeres Ehrenfeld als die Nachbarstadt. Laut einer Vereinbarung von 1988 zwischen der Uni und dem Grünflächenamt Bochum besteht es, aus Landesmitteln finanziert, schon seit dem 2. Juli 1969. Erste Aufrufe zu Körperspenden erfolgten bereits 1965 in der lokalen Tagespresse, wie sich Jacob erinnert, initiiert vom damaligen Lehrstuhlinhaber der jungen Uni, Prof. Dr.Wolfgang Zenker. Seitdem halten spendenwillige Menschen Kontakt zur Prosektur. 

Gemeinschaftstrauerfeier und -grabpflege

Semesterwechsel, es ist Frühling, Ende der kalten Winterzeit. Die Fachschaft Medizin bereitet für die Angehörigen die Trauerfeier der eingeäscherten Körperspender/innen vor. In der Mitte der Trauerhalle steht ein schlichter Holzsarg stellvertretend für alle. Ihre Namen, außer von denen, die auf Wunsch unbekannt bleiben und irgendwo am Rande der Anlage gebettet sind, werden laut verlesen. Je nach Konfession bestreitet ein Pfarrer oder freigeistiger Redner die Aussegnung. Die Universität hat sich mit der Krankenkasse und Sterbeversicherung geeinigt. Als Besorgerin der Bestattung steht ihr das Sterbegeld zu, von dem sie anteilig Überführung, Kühlung, Bestattung und Grabpflege bestreitet.

Das anatomische Gräberfeld ist einheitlich mit schlichten Winter- oder Sommergewächsen bepflanzt, mal unterbrochen von einem einzelnen bunten Blumenstrauß oder den roten Grablichtern im Herbst. Ein schmuckloses Sandsteinkissen nennt Name, Geburts- und Sterbedatum. Die Ruhr-Universität schuldet ihren Körperspender/innen viel. Dermietzel: „Nur durch sie erfahren die angehenden Ärzte, wie es unter der Haut aussieht.“Thea A. Struchtemeier

Extrakasten

Klinisch-anatomisches Forschungs- und Fortbildungszentrum KAFFZ

Das KAFFZ besteht seit dem Sommer 2000; es hat seine Räume in MA Nord 01/540-543, Leiter ist Prof. Dr. Rolf Dermietzel. Sinn des Zentrums ist die Verbindung unterschiedlicher wissenschaftlicher Bereiche wie Chirurgie, Orthopädie sowie Ingenieurswissenschaften mit der Prosektur, um deren vorhandenen Ressourcen besser und intensiver zu nutzen. So kann die Biomechanik an Körperspenden wichtige Belastungstests der Gelenke durchführen, die an Lebenden nicht möglich wären. Im Rahmen von Fortbildungen erlernen und üben Fachärzt/innen notwendige Techniken wie das Spiegeln von Nasennebenhöhlen, das sonst üblicherweise zuerst an Phantomen, dann an Modellen ausgeführt wurde. Die enge Zusammenarbeit der Universitätskliniken mit den verschiedenen Instituten auf dem Campus ermöglicht die interdisziplinäre Arbeit des KAFFZ. Die Mitarbeit von Körperspendern wird gesondert vertraglich geregelt. Thea A. Struchtemeier

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